Vor einiger Zeit auf diesen Schnipsel gestoßen:
Günther Anders: Entfremdung?
Denn dieser von Marx eingeführte und nun von Allen, auch Nichtmarxisten, auch Halbgebildeten nachgeplapperte Terminus war von Beginn an wenig glücklich. In den Ohren genau Hörender müsste der eigentlich (parallel etwa zu „Enteisung“ oder „Entfettung“ bedeuten: etwas seiner Fremdheit oder Befremdlichkeit entkleiden; und nicht umgekehrt, wie Marx es gemeint hatte, und wie es die Erben des Terminus ebenfalls meinen, etwas fremd oder befremdlich machen.1 Wer fortfährt, den Ausdruck zu verwenden, der darf das eigentlich nur dann tun, wenn er bewusst die dem Marxschen Sinne entgegengesetzte Bedeutung mit ihm verbindet – was allerdings der Wahrheit entspräche. Denn den Politikern, Industriellen, Ingenieuren und Arbeitern liegt ja nichts ferner, als ihre enormen Leistungen und Effekte, also z.B. die hergestellte atomare Gefahr, in etwas „Fremdes“ zu verwandeln.
Umgekehrt liegt ihnen ja ausschließlich daran, die unvorstellbar großen, ihnen und uns durch diese ihre Größe total fremd bleibenden Zielsetzungen und Effekte sprachlich so zu behandeln, als gehörten diese zum Alltäglichsten, Selbstverständlichsten und Vertrautesten ihres und unseres Lebens; sie also ihrer Fremdheit oder Befremdlichkeit zu entkleiden – kurz: sie (nun im korrigierten Sinne des Terminus) zu „ent-fremden“.
FN 1 Brecht, dessen Ohr untrüglich war, war das längst aufgefallen. Schon vor 60 Jahren hat er das unglückliche Verb „entfremden“ für seine Theateranweisungen durch das andere „verfremden“ ersetzt; das freilich zur Charakterisierung dessen, was wir nun im Auge haben, auch nicht geeignet wäre.
Aus dem Manuskript zum Dritten Band der „Antiquiertheit des Menschen“; zuerst veröffentlicht in: „Sprache und Endzeit“ (VI) § 31, FORVM Nr. 433-435, Heft Jänner-März 1990, S. 17. Mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Oberschlick.
Das ist prima Partywissen, dachte ich mir, und machte mit diesem Döneken tatsächlich einige Punkte. Günther Anders steht sowieso in unserem Kanon ziemlich weit oben. Bis ich auf den letzten Operaisten traf, der ganz trocken reagierte und mir die entsprechenden Passagen aus dem Duden (Ausgabe 2001) schickte. Und Essig war’s:
ent- [mhd. ent-, ahd. int-, Gegensatz od. Trennung bezeichnendes Präfix, durch Abschwächung in unbetonter Stellung entstanden aus mhd., ahd. ant-, Antlitz]:
1. drückt in Bildungen mit Verben aus, dass etw. wieder rückgängig gemacht, in den Ausgangszustand zurückgeführt wird: entbürokratisieren, entnuklearisieren, entproblematisieren.
2. drückt in Bildungen mit Substantiven und einer Endung aus, dass etw. entfernt wird: entmotten, entrußen.
3. drückt in Bildungen mit Verben ein Weggehen, ein Entfernen aus/weg-: enteilen, entschweben.
4. drückt in Bildungen mit Verben ein Herausgelangen, ein Wegnehmen aus: entreißen, entsteigen.
5. drückt in Bildungen mit Verben den Beginn von etw. aus: entbrennen, entzünden.
6. drückt in Bildungen mit Adjektiven und einer Endung aus, dass eine Person oder Sache so wird, wie es das Adjektiv besagt: entblößen, entleeren.
7. a) drückt den Gegensatz zu Verben auf ver- aus: entkrampfen, entzaubern;
b) drückt den Gegensatz zu Verben auf be- aus: entkleiden, entwaffnen;
c) drückt in Bildungen mit Verben den Gegensatz zu diesen Verben aus: entsichern, entwarnen.
Es stimmt zwar, dass „Ent-“ meistens eine Auflösung ausdrückt („Ich habe mich in dir getäuscht, jetzt bin ich enttäuscht.“). Aber offensichtlich fällt die ENTFREMDUNG in die Kategorien 5 und 6. Eine Art Hinarbeiten zu dem, was im Hauptbestandteil des Wortes ausgedrückt ist: „… dass eine Sache so wird, wie es das Adjektiv besagt“. Passend dazu auch eine Passage aus Pfeifers Etymologisches Wörterbuch:
Schließlich weist ent-. bei trans. und intrans. Verben auf eine Trennung, einen vom Ausgangspunkt wegführenden Vorgang hin (z. B. entfernen, entnehmen, entreißen, entfliehen, entgehen, entweichen), gelegentlich im Sinne eines Hervortretens, Sichtbarwerdens (z. B. entsprießen, entspringen).
… gelegentlich im Sinne eines Hervortretens, Sichtbarwerdens: In der Entfremdung tritt also das Fremde, das Fremdwerden hervor. Die Marxisten unter uns können sich also wieder beruhigt zurücklehnen und müssen sich darüber keine Gedanken mehr machen, bleibt die eher unerhebliche Frage, wieso der sonst so supergenaue Anders sich an dieser, durchaus nicht unheiklen Stelle dermaßen verhauen konnte. Vielleicht ein Rest jener einfältigen Sprachmagie, der einer seiner Lehrer (nicht genannt werden soll sein Name, aber als Tipp: Es ist nicht der Husserl!) gefrönt hat?!