Der Radwechsel
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?
(Aus: Bertolt Brecht, »Werke Bd. 12. Gedichte Bd. 2.«, Frankfurt 1988: Suhrkamp, S. 310)
Matti wechselt das rad
Während ich den reifen abmontiere
haut sich der chef auf die wiese,
sieht dauernd rüber.
als fahrer verwartest du stunden, warum
wird er nervös wenn er einmal
auf mich warten muß? Wenn die panne
ihn zu viel zeit kostet: er
kann mir ja helfen.
(Aus: Yaak Karsunke, »Reden & Ausreden. Gedichte«, Berlin 1969: Wagenbach Verlag)
Anmerkung
In »Fragen eines lesenden Arbeiters« hat Brecht gewissermaßen die Ur-Szene des Aufklärungsmarxismus geschildert: Ein Arbeiter liest – er arbeitet also nicht. Er steht abseits des Betriebs, kommt gewissermaßen zur Ruhe, zu sich selbst und kommt bei seiner Lektüre, die ja ganz enorm ist (Theben, Babylon, die chinesische Mauer, das Gold der Inkas, Cäsar, Byzanz, Atlantis …), auf die Frage nach der lebendigen Arbeit, die in den geronnenen Fakten der Geschichte steckt, nach der Qual, die hinter einem bestimmten Datum verschwindet, und deren Bewusstmachen diesem Datum einen umstoßend anderen Charakter verleihen. Der Arbeiter in Brechts Gedicht liest nicht die marxistische Aufklärung über die Heldengeschichtsschreibung – bleibt es deshalb »nur« bei den Fragen (es fehlen noch die Schlüsse)? Oder muss man nicht viel eher sagen: Er braucht die explizite Aufklärungsliteratur nicht, sondern kann in dem Moment der Ruhe und des Innehaltens von selbst darauf kommen – in diesem Sinne wären die Fragen nicht erst die halbe, sondern schon die ganze Miete.
Entscheidend ist aber, dass der Bewusstseinsbildungsprozess abseits der zwangsweise produktiven Tätigkeit des Arbeiters stattfindet. Das »richtige« Bewusstsein entsteht durch Kontemplation, Selbstbesinnung, hartnäckiges Befragen der konformistischen Überlieferung.
Die Variation von Yaak Karsunke, einem der vielen linken Schriftsteller der 60er und 70er Jahre, von denen es heißt, sie hätten sich nicht durchgesetzt (eines dieser frechen, gemeinen Urteile einer rundum widerwärtigen Germanistik), bezieht sich natürlich auf ein anderes, nämlich auf das wohl berühmteste Spätgedicht Brechts (s.o.) und gewinnt seine Energie aus dem Perspektivwechsel – es ist also die typische negative (= vom Original abhängige) Energie der Parodie. Aber eben nicht nur! Der lakonische Sound Karsunkes ist streng brechtianisch – Brecht wird es mit gleicher Münze heimgezahlt, oder feinsinniger: noch die Kritik an Brecht bedient sich seiner Formen und Gesten –, und die Pointe findet sich to be precise … in der Überschrift: »Matti wechselt das rad«! Matti ist eine klassische Brecht-Gestalt, sie ist seinem Herr-Knecht-Drama »Herr Puntila und sein Knecht Matti« entsprungen. Karsunkes Parodie ist streng genommen keine, sondern das Gegengewicht innerhalb einer dialektischen Spannung: Brechts »Radwechsel« wird vollständig erst durch die Perspektive Mattis.
Mit dem Bezug auf Matti öffnet Karsunke den Blick auf das gesamte Werk Brechts, deshalb kann dieser Perspektivwechsel auch als Alternative zu den »Fragen eines lesenden Arbeiters« verstanden werden: Der Prozess der Bewusstseinsbildung ist hier keiner mehr, der allein der Sphäre der Kontemplation – der Trennung von Lernen und Arbeiten – zugehörig wäre, sondern er findet im Arbeitsprozess selber statt. Dies als kleiner Fingerzeig für die Genossen, die der Arbeiterin und dem Arbeiter nur die Erfahrung seiner Ausbeutung und Entfremdung zugestehen, nicht aber das Bewusstsein davon, dass sich ja angeblich nur getrennt von der alltäglichen Schinderei bilden könnte (und das man nach dem Muster eines metaphysischen Cross Border Leasings am besten direkt an die Intellektuellen abtreten sollte).